*Der Beitrag spiegelt die persönliche Meinung des Autors wider und entspricht nicht zwangsweise der Meinung der VDW.

Die Frage und ihr Kontext

Wir leben in der wissenschaftlich-technischen Welt.[1] Das besagt: Sie ist ein Kunstprodukt, sie ist bzw. wird – zunehmend – produziert, mit Hilfe von Wissenschaft und Technik. Die Wissenschaft ist aber auch ein strategischer Akteur, auf der Ebene von Konzepten und Designs des Prozesses, welcher diese Welt produziert. Sagt man „Politik“ für „koordiniertes Handeln“, dann macht Wissenschaft Politik (mit). Dieses ihr (Mit-)Machen, vor allem aber ihr unzureichendes Tun dabei, ihr Versagen, hat sie zu verantworten.

Wir leben in der Demokratie – diesen Namen trägt die Herrschaftsform, in der Politik bei uns gemacht wird. Soll das gelingen, so erfordert sie ein Bewusstsein des Souveräns in dieser Herrschaftsform, des Volks, welches ihn ermächtigt, der anstehenden Aufgaben gerecht zu werden.[2] Auch das Bewusstsein ist ein gemachtes, auch hier qua Mit-Tun (oder Versagen entsprechenden Tuns) der Wissenschaft.

Von Einfluss ist die Wissenschaft in vielfältiger Weise. Die höchste Stufe ihres (potentiellen) Einflusses für das politische Tun liegt auf der transzendentalen Ebene – wo die Bedingungen für gutes kollektives Handeln bzw. für angemessene Bewusstseinsbildung geschaffen werden. Da vermag die Wissenschaft wesentlich mitzuwirken, es geht da um Konzepte bzw. Designs. Das ist der Wissenschaft so eigen, wie der neuzeitlichen „science“ das Prägen von Begriffen und Begriffssystemen eigen war bzw. ist. Das ist so machtvoll wie es abstrakt ist – et vice versa. Katastrophen, so zeigt sich regelmäßig bei nachträglichen Klärungen, verschaffen sich ihren Zugang in den Lücken der Handlungs-Konzepte, wegen unzureichenden Designs von Wahrnehmungsproduktion. Wie hat die Wissenschaft da ihre Verantwortung wahrzunehmen?

Konkretion durch Herabstieg von oben

Diese Frage ist zu abstrakt, um sie hier wirklich zu beantworten. Ich weiche aus in ein Bild zu einer speziellen Katastrophe. Die VDW, mit ihrem Pugwash-Engagement, will helfen, „Krieg“ zu verhindern. Gewaltanwendung ist bekanntlich attraktiv. Revolution und Krieg werden, im Stadiums ihres Kommens, in der kollektiven Phantasie regelmäßig mit Erlösungs-Phantasien belegt – sind sie da, ist es anders. Die Bereitschaft zur Eskalation der Gewalt, physisch aber vor allem mental, die, einmal entfesselt, so zwangsläufig zur Revolution (nach innen) oder zum Krieg (nach außen) zu führen scheint, ist gleichsam der Fuchs, der jede Nacht checkt, ob der Hühnerstall wirklich verschlossen ist – ist das nur einmal in tausend Nächten nicht der Fall, dann greift er zu. Deshalb beteiligt sich die VDW am andauernden Check des Hühnerstalls auf irgendwelche unverschlossene Türen oder andere Einbruchsstellen, oder gar neue Aufbruch-Instrumente, die dem Fuchs aus technischem Fortschritt zugewachsen sein könnten.

Der Krieg steht pars pro toto – Katastrophen gibt es zuhauf, das ist offensichtlich; und mögliche Katastrophen noch viel mehr. Im Nachgang zu einer jeden eingetretenen Katastrophe, bei deren Aufarbeitung, findet man regelmäßig Personen, häufig Wissenschaftler, jedenfalls systemisch denkende Akademiker, also Ex-Wissenschaftler, die frühzeitig auf das kommende potentielle Drama hingewiesen haben. Das Ergebnis zum Diesel-PKW-Abgas-Fall, die Untersuchung im Auftrag des Europäischen Parlaments, hat das jüngst wieder bestätigt. Die Wissenschaftler, in diesem Fall vor allem vom Joint Research Centre (JRC), der EU-eigenen Forschungsstelle, fanden in Brüssel kein Gehör – so das Minimum-Schema misslingender Kommunikation; bzw. es wurde aggressiv verweigert, angebotene Hinweise auf Symptome angemessen offen zur Kenntnis zu nehmen – so die Praxis in Deutschland. D.h. es ist einmal mehr misslungen, dem wissenschaftlichen Kenntnisstand „Gehör zu verschaffen“. Entsprechend dilatorisch war die Politik; entsprechend hoch der entstandene (und weiterhin produzierte) Schaden.

Elemente eines professionellen Designs der Risikowahrnehmung

Gesellschaftliche Risikowahrnehmung gelingt nicht einfach so, sie bedarf für ihren Erfolg vielmehr eines professionellen Designs – darin und nur darin vermag die Wissenschaft ihre Stärken erst zur Geltung zu bringen. Daran mangelt es in Deutschland. Im Folgenden werden drei solcher Mängel angesprochen.

Erstens: Die Bekanntgabe von seitens der Wissenschaft vermuteten bzw. festgestellten Produktsicherheitsmängeln[3] ist ihrerseits ein hoch-riskanter Akt. Die will gut überlegt sein. Es geht um potentiell hohe Schadenssummen, wenn eine Vermutung sich als unzutreffend erweist. Also geht es im Ernstfall um hohe Streitwerte und Schadenersatzforderungen. Der Positionsbezug der Wissenschaft als System in Deutschland dazu, bislang: Sie drückt die (potentielle) Haftung, das Haftungsrisiko, auf die Wissenschaftler als Privatpersonen ab. Das ist ein ungleiches Verhältnis der „Spieße“. Angesichts dessen ist es kein Wunder, dass warnende Stimmen (von Wissenschaftlern) regelmäßig erst nach Eintreten einer Katastrophe zu Gehör kommen. Dieses (und weitere) Defizite im Design der Aufstellung der (Warn-)Kommunikation (zu Produktmängeln) sind offensichtlich. Seit langem bekannt sind sie auch – was nicht erstaunlich ist, sie sind eben ebenfalls produziert.

Das defiziente Design der (Warn-)Kommunikation (zu Produktsicherheitsmängeln) bedarf einer Korrektur – das hat verantwortungsgerecht zu werden. Die Pointe von Verantwortung gegenüber Zuständigkeit ist die Offenheit der Verweise auf Subjekte. Bei Zuständigkeit sind die Subjekte definiert, Verantwortung hingegen muss von (freien) Subjekten ergriffen werden. Für allfällige Produktsicherheitsmängel gibt es auch einen ausgearbeiteten institutionellen Vorschlag, der m.E. dem Wesen von Verantwortung entspricht, bestens geeignet ist und einen wichtigen Schritt voran darstellen könnte. Ausgearbeitet wurde er von der „Risikokommission“, im Juni 2003 publiziert[4], in Auftrag gegeben im Jahre 2000, nach dem Eintritt einer zum Glück lediglich potentiell gebliebenen Katastrophe, der Feststellung des Vorliegens von BSE in Deutschland.

Zweitens: Produktsicherheitsmängel zeigen sich im Gebrauch. Es geht um den Gebrauch großer Stückzahlen, wobei sich seltene aber systemische Sicherheits-Mängel, die in systematischen Produkttest unerkannt blieben, sich dann doch, nach dem Gesetz der großen Zahl, also statistisch zeigen können. Das In-Verkehr-Bringen eines Produkts ist eben immer auch ein Groß-Experiment, mit der Möglichkeit des Dazu-Lernens. Um lernen zu können, muss es aber ein Monitoring der großen Datenmengen geben – von alleine fällt da nur schwer etwas auf. Und selbst wenn einem Subjekt etwas Irreguläres auffällt, ist ungeklärt, welches Subjekt dem nachzugehen hat. Es geht um den Umgang mit Big Data. Für Arzneimittel und Chemikalien ist das auch entsprechend eingerichtet, darüber hinaus aber nicht, beziehungsweise nur asymmetrisch. Die Hersteller von Produkten nämlich verfügen selbstverständlich über Datenbanken, in denen die entsprechenden Mängelanzeigen, die sie vermutlich relativ vollständig erreichen, dokumentiert sind. Diese Datensammlungen werden aber allein für Zwecke der Hersteller ausgewertet, nicht für die Zwecke der Gegenseite noch die von Dritten – also extrem asymmetrisch nur und damit volkswirtschaftlich ineffizient.

Dieses defiziente Design der kollektiven Wahrnehmung von Produktsicherheitsmängeln bedarf einer Korrektur. Ein Beispiel für eine weitergehende Realisierung dieser schlichten Professionalitätsanforderung findet sich in den USA, die übrigens auch für die nachholende Professionalisierung der Risikowahrnehmung für Arzneimittel und Chemikalien – nach dem Contergan-Fall – die Folie bereitgestellt hatte. Ich meine Straßenfahrzeuge, die in großer Zahl in den Markt entlassen werden und in großer Zahl zu Unfällen führen, in Kollaboration mit der Straßeninfrastruktur. In den USA existiert die National Highway Traffic Safety Administration (NHTSA). Ihre Aufgabe ist, die Anzahl der Toten und Verletzten sowie die ökonomischen Schäden durch Unfälle mit Motorfahrzeugen zu verringern – und das unabhängig davon, ob eine individual-rechtliche Feststellung eines Mangels, in der Beziehung Kunde-Hersteller, möglich ist; und auch unabhängig davon, welchem Element in der Ko-Produktion von Sicherheit, Fahrer, Fahrzeug oder Infrastruktur, der Unfallbeitrag im konkreten Fall überwiegend zuzurechnen ist. In der Konsequenz kommt es bei statistisch hinreichend signifikanten Indizien für Produktsicherheitsmängel behördlicherseits zur Anordnung von Rückrufen. Sicherheit wird als öffentliches Gut gemanaged. Das ist angemessen für Sicherheit; und also ist es erheblich effizienter als der in Deutschland bzw. Europa überwiegend übliche Ansatz.

Drittens: Refinanzierung für Wissenschaft, wenn deren Vertreter agendagerecht Rat geben. Die legislativen Prozesse in Deutschland nähern sich in ihrem Design zunehmend den angelsächsischen an – und das ist gut so. Die Pointe dabei ist, dass komplexere Regelungsmaterien in frühzeitigen Stadien ihrer konzeptionellen Entwicklung „konsultiert“ werden, d.h. zur Beratung an die „interessierten Kreise“ gegeben werden. Das steht im Kontrast zu der Vorgehensweise, die lange Zeit in Deutschland allein üblich war, dass erst auf einer relativ späten Stufe eines solchen Prozesses, bei der Vorlage eines Entwurfs eines Rechtstextes, die Öffentlichkeit einbezogen wurde. Diese Fortentwicklung, weg davon, dass die unparteiischen Beamten der Administration die frühen (und komplexen) Entwicklungsschritte eines Regelungsvorhabens aus alleiniger Kompetenz heraus gestalten, hat dazu geführt, dass diejenigen Know-how-Träger, die bereits lange etabliert sind, um agendagerecht politische Gestaltungsprozesse zu begleiten, Verbände, die Vertreter von Interessen also, weitgehend alleine zum Zuge kommen – dieses Re-Design des politischen Standard-Prozesses wurde eben seinerseits unsystematisch vorgenommen. Strukturelles Ergebnis ist eine stärkere Parteilichkeit für private Interessen gegenüber Interessen der Allgemeinheit.

Das defiziente Design der Kommunikation innerhalb des politischen Prozesses, der zum Design bzw. Re-Design des Umgangs mit Risiken, insbesondere potentiellen Produktsicherheitsmängeln, führt, bedarf m.E. einer Korrektur. Es geht darum, dass die Wissenschaft einbezogen wird, dass sie ihr Know-how der Politik im Prozess der Konzipierung von Regelungen zur Verfügung stellt, insbesondere bei denjenigen Regelungen, mit deren Hilfe Sicherheit, ein öffentliches Gut, geschaffen werden soll. Das tut sie gegenwärtig nicht von alleine, und dazu ist sie mit ihrer gegenwärtigen Aufstellung auch nicht in der Lage.

Die gegenwärtig konzipierte Aufstellung der Wissenschaft ist monopolistisch. Diese Aufgabe wurde der Leopoldina als Leitakademie übertragen. Die bildet zu ausgewählten Fragestellungen Arbeitsgruppen, die dann zu dem ihnen übertragenen Themengebieten je eine Ausarbeitung an die Politik senden. Damit wird die Wissenschaft der Fülle von Themen und Agenden und ihrem eigenen Potential aber bei weitem nicht gerecht – auch integriert sich die Beteiligung in dieser höchst qualitätsgesicherten Form nicht in den Prozess der „Konsultation“. Es gibt m.E. keinen Grund, weshalb die Wissenschaft in Deutschland dieses offen adressierte Beratungsersuchen seitens der Politik nicht von sich aus auch zu erfüllen suchen sollte. Dazu muss sie aus dem Monopolanspruch heraustreten und eine dezentrale, ungesteuerte Beteiligung von Know-how-Trägern aus eigener Verantwortung und eigener Expertise ermöglichen. Es geht um Incentives und Refinanzierung, wenn Wissenschaftler oder Wissenschaftlergruppen sich beteiligen – das hat (mindestens) in den Katalog der üblichen Leistungsausweise (hinsichtlich des „Impacts“ auf die Gesellschaft) aufgenommen zu werden.

Conclusiones

Was folgt aus dieser – nüchternen – Diagnose? Für mich Zweierlei:

  1. Zur Haltung: Wissenschaftler verkämpfen sich nicht am Einzelfall – sie analysieren und sehen im (katastrophalen bzw. katastrophengeneigten) Ergebnis zugleich den Design-Mangel, welcher den Einzelfall ermöglicht. Ihr Training in „Wertfreiheit“ macht sie nicht etwa zu emotionslosen Maschinen, die nur – risikolos – Allgemeinplätze produzieren. Nein, ihr Training in der Befähigung zur Nicht-Wertung (Wertfreiheit) ist ein Training in Coolness zum angemessenen Mitagieren im Raum des Politischen.
  2. Institutionell wünsche ich mir Zweierlei: (i) Das Konzept der Risikokommission sollte es in die Koalitionsabsprache für die 19. Legislatur schaffen. (ii) Die heutige Aufstellung der Wissenschaft hinsichtlich ihrer Rolle und ungenutzten Potenziale bei der gesellschaftlichen Risikowahrnehmung in der Herrschaftsform Demokratie sollte einem Check unterzogen werden, von ihr selbst.

Dr. Hans-Jochen Luhmann

Senior Expert am Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie
VDW-Vorstandsmitglied

 


[1] Die Wortwahl ist dem Titel des Starnberger MPI entnommen, in welches wesentliche Teile der Hamburger „Arbeitsstelle der VDW“ übergegangen sind. In der Satzung hies es noch praktische Auswertung wirkt sich immer stärker auf alle Gebiete menschlicher Betätigung aus.

[2] In der Sprache der VDW-Satzung: „die … Volksbildung zu fördern durch die Vermittlung sachlicher Informationen an die Öffentlichkeit und ihre Organe“.

[3]  In der Sprache der VDW-Satzung: dem „öffentlich Gehör zu verschaffen“, d.h. es nicht nur zu publizieren, sondern es kommunikativ ‚durchzubringen’, gegen Widerstände der Rezipienten und folglich auch der Medien.

[4] http://www.apug.de/archiv/pdf/RK_Abschlussbericht.pdf

Dr. Hans-Jochen Luhmann
Dr. Hans-Jochen Luhmann
Hans-Jochen Luhmann, Jahrgang 1946, studierte Mathematik, Volkswirtschaftslehre und Philosophie in Hamburg, Basel und Heidelberg. Von 1974 bis 1980 war er Mitglied der Arbeitsgruppe Umwelt, Gesellschaft, Energie (AUGE) an der Universität Essen. Als Geschäftsführer war er für die Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (VDW) tätig. In den achtziger Jahren leitete er die Fachabteilung „Ökonomie und Recht“ bei Fichtner Beratende Ingenieure und ab 1993 war er stellvertretender Leiter der Abteilung Klimapolitik des Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie. Gegenwärtig ist Dr. Luhmann Senior Expert (Emeritus) am Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie, Herausgeber der Zeitschrift „Gaia – Ökologische Perspektiven für Wissenschaft und Gesellschaft“ sowie Lehrbeauftragter im Masterstudiengang Energiemanagement der Universität Koblenz-Landau, verantwortlich für den Kurs „Internationale Klimapolitik und Emissionshandel“.