Unser langjähriges, aktives und prägendes Mitglied vollendete mit dem 8. April sein 80. Lebensjahr. Die VDW sendet ihrem vormaligen Vorsitzenden alle herzlichen und guten Wünsche nach Hamburg-Blankenese.

Von 1975 bis 1981 war Meyer-Abich im Vorstand der VDW, den er von 1976 bis 1981 auch leitete. Nach dem Physikstudium (1961 Diplom) und seiner philosophischen Promotion (1964) bei Carl Friedrich von Weizsäcker an der Universität Hamburg, war er von 1964-1969 dessen wissenschaftlicher Assistent am dortigen Philosophischen Seminar. Er gehörte ab 1970 zu den ersten Mitarbeitern des Starnberger „MPI zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt“. 1972 folgte er einem Ruf auf den Lehrstuhl für Naturphilosophie an die Universität Essen, wo er auch im Gründungssenat wirkte. Von 1974-1984 leitete er mit der „Arbeitsgruppe Umwelt, Gesellschaft, Energie“ (AUGE) ein Institut, das die Umwelt- und Energiedebatte in Deutschland nachhaltig beeinflusste. 1989‑1996 war Meyer-Abich mit einer Forschungsprofessur und der Projektleitung »Kultur­geschichte der Natur« im Kulturwissenschaftlichen Institut des Wissenschaftszentrums Nordrhein-Westfalen betraut. 1997 nahm er die Lehrtätigkeit an der Universität Essen wieder auf. 2001 wurde er emeritiert.

Nicht zu unterschätzen ist die Wirkung des von Meyer-Abich zusammen mit Bertram Schefold (Goethe-Universität Frankfurt am Main) geleiteten VDW-Projekts „Die Sozialverträglichkeit von Energiesystemen“. Hier wurde in den Jahren 1979-1984 in vieler Hinsicht innovative und langfristig wirksame Forschung betrieben. Die verfolgte Zielsetzung, mit wissenschaftlicher Expertise politische Relevanz zu erzielen (Meyer-Abich, 1988), kann auch für heutige VDW Aktivitäten als beispielgebend gelten. Meyer-Abich formte prototypisch die Rolle des politisch verantwortlichen Wissenschaftlers, der in den Ebenen von Wissenschaft und Politik wirkt, aber deren jeweilige Eigenart und gegenseitige Unabhängigkeit sorgsam bewahrt. Die Chancen für eine wünschbare Entwicklung liegen im Zusammenspiel der Möglichkeiten und nicht in der Dominanz einer – vermeintlich richtigen – Seite: „Es kommt also darauf an, durch die wissenschaftliche Beratung der Politik die richtigen Fragen zu beantworten: diejenigen, die nach dem jeweiligen Stand der Entwicklung wahrgenommen werden oder darüber hinaus unter den Bedingungen der politischen Entscheidungsvorbereitung wahrgenommen werden können. Recht zu haben genügt dazu allein noch nicht“ (Meyer-Abich 2009, S. 309). Seine Fähigkeit, verschiedene Perspektiven auf die Wirklichkeit einzunehmen und dabei das Ganze nicht aus dem Blick zu verlieren, konnte er als Senator und Präses der Behörde für Wissenschaft und Forschung der Freien und Hansestadt Hamburg (1984-1987) fruchtbar einsetzen. Dieses politische Amt liegt gleichsam als Zwischenglied seiner Arbeit in den bedeutsamen Enquete-Kommissionen „Zukünftige Kernenergiepolitik“ (1979-1982) und „Schutz der Erdatmosphäre“ (1987-1994).

Meyer-Abich hat seine holistische Naturphilosophie in zahlreichen Publikationen ausgearbeitet. Viele davon sind Wegbereiter für eine Veränderung von Sichtweisen, die heute z.t von der Öffentlichkeit nachvollzogen werden – allen voran einer Zukunft ohne Kernenergienutzung (Meyer-Abich/Schefold, 1986). Programmatisch sind seine „Wege zum Frieden mit der Natur“ (Meyer-Abich, 1984). Die Weitung des Blickes auf die Friedensfrage als einer Angelegenheit zwischen Mensch und Natur lässt die Gefahr des nuklearen Holocaust als naturgeschichtliches Phänomen erkennen. Meyer-Abich bringt hier u.a. die Gedanken von Carl Friedrich von Weizsäcker und Georg Picht auf den Punkt und entwickelt sie zu einem Konzept der „Mitwelt“ entscheidend weiter. Danach begegnet der Mensch nicht den Gefahren, sondern er denkt sie sich im Wortsinne wirklich (also in Realität setzend) selbst aus. Das menschliche Denken ist Quelle der Gefahr und muss zugleich Quelle der friedlichen Bewahrung sein. Die Überwindung einer Dichotomie zwischen Umwelt und Mensch ist die Voraussetzung für nachhaltiges Handeln, würden wir heute sagen. Ganz im Einklang mit Goethe formuliert Meyer-Abich: „Wir sind meines Erachtens diejenige Gattung, mit der die Natur sich forttreibt, indem sie in ihr zur Sprache kommt“ (Ebd., S. 94). Entsprechend ist seine praktische Naturphilosophie ein Aufklärungsprojekt: „Weil unser Handeln immer ein Ausdruck unseres – ausdrücklichen oder unausdrücklichen – Selbstverständnisses ist, beruht auch die Zerstörung der natürlichen Mitwelt auf falschen Voraussetzungen darüber, was der Mensch ist und wozu wir im Ganzen der Natur da sind. Dies ist sogar der eigentliche Angelpunkt, an dem die Umweltkrise sich als eine Bewertungskrise erweist und wir umzudenken haben. Wir müssen einsehen, dass wir nicht diejenigen sind, als die wir uns in der Industriegesellschaft gegenüber der natürlichen Mitwelt verhalten. Sonst ist die Katastrophe nicht aufzuhalten“ (Ebd.). Meyer-Abich kann für sich beanspruchen, zu dieser Einsicht viele Anstöße und Hilfestellung gegeben zu haben.

2010 legte er eine voluminöse Philosophie der Medizin vor. Die Frage, „Was es bedeutet, gesund zu sein“, erörtert Meyer-Abich in einer groß angelegten Zusammenschau von individuellen Aspekten und allgemeinen Zusammenhängen, die eine gegenseitige Bezüglichkeit von somatischen und psychischen Phänomenen sichtbar machen. Danach „… hat alles, was im persönlichen Leben eines Menschen passiert, sowohl eine psychische als auch eine somatische Wirklichkeit, kann also auch immer in diesen beiden verschiedenen Modi wahrgenommen werden (Meyer-Abich 2010, S. 147). Außerdem macht er die Möglichkeit des gesunden Lebens als Folge angemessener Kultur und Politik verstehbar. Gesundheit und Krankheit von Individuen werden als „Charaktere ihres Mitseins mit Anderen“ in einem „gesellschaftlichen Kraftfeld“ erkannt (Ebd. 249). Sein Plädoyer gilt denn auch folgerichtig einer Gesundheitspolitik, die durch Gesundheitsbildung und gesundheitsförderliche Lebens- und Arbeitsbedingungen die Chancen für individuelle Gesundheit erhöht. Wie schon in der Energie- und Klimapolitik erlaubt der holistische Ansatz Meyer-Abich, die Grenzen zwischen Mikro- und Makroebene zu überwinden und „…eine umfassende Gesundheitspolitik in absehbarer Zeit als eine Regierungsaufgabe…“ (Ebd. S. 597) wiederzuentdecken, die nicht als Ressortpolitik abgetrennt behandelt wird.

Wenn wir heute die Klimapolitik als Querschnittsaufgabe – durch alle Politikressorts und gesellschaftlichen Felder hindurch – verstehen, dann folgen wir damit auch der vorausschauenden Perspektive von Meyer-Abich aus den 70er und 80er Jahren. Vermutlich wird auch unser Verständnis einer umfassenden Gesundheitspolitik erst mit einiger Verspätung dem Weitblick von seiner Philosophie der Medizin gerecht werden.

Ulrich Bartosch, Beiratsvorsitzender der VDW

 

Quellen:
Klaus Michael Meyer-Abich (2010), Was es bedeutet gesund zu sein. Philosophie der Medizin, München: Carl Hanser Verlag.
Klaus Michael Meyer-Abich (1984), Wege zum Frieden mit der Natur. Praktische Naturphilosophie für die Umweltpolitik, München: Carl Hanser Verlag; zit. nach TB-Ausgabe, München: dtv, 1986.
Klaus Michael Meyer-Abich (1988), Wissenschaft für die Zukunft. Holistisches Denken in ökologischer und gesellschaftlicher Verantwortung, München: Beck.
Klaus Michael Meyer-Abich (2009), Das VDW-Projekt „Die Sozialverträglichkeit von Energiesystemen“ (1979-1984), in: Stephan Abrecht et. al. (Hrsg.), Wissenschaft – Verantwortung – Frieden. 50 Jahre VDW, S. 311-319.
Klaus Michael Meyer-Abich und Bertram Schefold (1986), Die Grenzen der Atomwirtschaft. Die Zukunft von Energie, Wirtschaft und Gesellschaft, München: Beck.

Prof. Dr. Klaus Michael Meyer-Abich

© Ulrich Bartosch