*Der Beitrag spiegelt die persönliche Meinung des Autors wider und entspricht nicht zwangsweise der Meinung der VDW.

Verantwortung der Wissenschaft in Zeiten von „war for eyeballs“, fake science und Digital-Kita

„Winning the war for eyeballs“ bedeutet: Den Kampf um die Aufmerksamkeit der Zielperson zu gewinnen. In der Werbepsychologie ist mit Zielperson der potenzielle Käufer gemeint. Und in einem Blog? Sie! Ja, Sie als Leser/in sind die Zielperson. Den Kampf zu gewinnen ist schwieriger geworden in einer dauer-reizüberfluteten Welt. Sie als Leser/in bekommen täglich millionenmal mehr neue Information im Internet zur Verfügung gestellt, als Sie verarbeiten können. Um den „Kampf um die Augäpfel“ zu gewinnen, werden Angebote immer greller, lauter, schneller, belohnungsintensiver. Damit Sie überhaupt weiterlesen, müssten da mindestens schon Weltrettungs- oder Weltuntergangs-Botschaften kommen: Digitalisierung macht uns schlau, fit und erfolgreich! Oder eben: Digitalisierung macht uns dumm, dick und antriebslos!

Chancen ergreifen, Risiken vermeiden

Genau diese Polarisierung verhindert jedoch, dass langfristig die Digital-Chancen maximiert und die Digital-Risiken minimiert werden können. Was es aus meiner Sicht braucht: Transdisziplinäre, systemvergleichende, zum Schutz vor Interessenkonflikten öffentlich und nicht privat finanzierte Forschungsanstrengungen, welche die Felder Wirtschaft (z.B. Industrie 4.0), Medizin (z.B. optimized self), Pädagogik (z.B. e-learning), Wissenschaft (z.B. open access), Militär (z.B. cyberwar, Drohnen), Politik (z.B. e-democracy), und weitere Felder einzeln und im Zusammenhang betrachten und die langfristigen Chancen-Risiken-Bilanzen unterschiedlicher Technologiepfade ermitteln, mit Bewertung durch verschiedene Stakeholdergruppen. Das klingt – zugegebenermaßen –  irgendwie kompliziert. Man könnte sagen, es klingt wie ein Rezept: „How to lose the war for eyeballs“. Es wäre schlimm, wenn differenzierte Urteile im Elfenbeinturm der Wissenschaft gefangen blieben und nicht politisch handlungsrelevant würden. Wie aber kann man mit diesem Spagat umgehen: Differenziert bleiben und Gehör finden?

Neue VDW-Studiengruppen zur Digitalisierung?

Für mich bewältigt diesen Spagat aktuell in Deutschland keine Organisation so gut wie die Vereinigung Deutscher Wissenschaftler. Bisher tut sie dies erfolgreich in der Atomwaffen-, Klima- und Gentechnik-Debatte. In Hamburg wurde jüngst auf der gemeinsamen Sitzung von Beirat und Vorstand der VDW über mögliche Erweiterungen  unseres Themenspektrums diskutiert. Wir trafen uns in einer Ad-Hoc-Arbeitsgruppe zum Thema „Technikfolgenabschätzung der Digitalisierung“. Viele Themen wurden für uns erst durch Ausdifferenzierung der oben genannten Felder (Digitalisierung in Wirtschaft, Medizin, Bildung, etc.) und deren Unter-Bereiche erschließbar.  Es entstanden aber auch produktive übergreifende Diskurse um grundlegende Herausforderungen einer gelingenden demokratischen Steuerung von digitalen Technologie-Optionen:

  • hohe Innovationsgeschwindigkeit vs. niedrigere Evaluationsgeschwindigkeit
  • Interessenkonflikte im Wissenschaftsbetrieb durch Drittmittelfinanzierung
  • Public Perception Management und politische Einflussnahme durch international agierende IT-Großkonzerne
  • Chancen und Risiken von Public-Private-Partnerships

Und immer wieder kam eine zentrale Sorge zur Sprache: Viele von uns sind als Wissenschaftler angetreten, um technologische Entwicklungen zu ermöglichen, die dem Menschen zur nachhaltigen Befriedigung seiner Bedürfnisse dienen sollen. Maschine dient Mensch. Wie kann es sein, dass sich in so vielen Bereichen scheinbar unabhängig voneinander, oft implizit und zunächst unbemerkt eine Perversion dieses Verhältnisses einschleicht? Menschen sollen nun  (individuell und als Gruppen) so gesteuert und optimiert werden, dass sie emsige und versierte Maschinen-Bediener werden, somit die Profite von IT-Konzernen steigern, und/oder zu tauglichem Humankapital werden, somit dem Wirtschaftswachstum dienen. Mensch dient Maschine. Oder: Mensch dient Wirtschaft. Das sind große Themen.

Schuster, bleib bei deinem Leisten?!

Begrüßt wurde bei unserem Treffen in Hamburg bei aller Freude an einem solchen großen gemeinsamen Diskurs auch das „Schuster, bleib bei Deinem Leisten“-Prinzip. Konkrete Forschungsergebnisse zu den Chancen, aber eben auch den oft vernachlässigten, wenngleich empirisch bereits gut belegbaren Digitalisierungs-Risiken gibt es in verschiedenen Bereichen.  Es könnten und sollten also weitere VDW-Studiengruppen entstehen, die sich mit einer Technikfolgenabschätzung der Digitalisierung in den verschiedenen Einzelfeldern beschäftigen. Eine neue  VDW-Studiengruppe mit dem Titel „Bildung und Bildung“ wird derzeit initiiert (interessierte Wissenschaftler können hierzu unter Paula.Bleckmann@alanus.edu gerne kontaktieren). Um diese eingeschränktere und politisch hochaktuelle Thematik soll es im Folgenden hauptsächlich gehen, insbesondere um die aktuellen Forderungen nach mehr Einsatz von Digitalmedien in Kindergarten und Grundschule.

Chancen und Risiken von Bildschirmmedien für Kinder: Wer sind die „Experten“?

Technikfolgenabschätzung (TA) ist ein forschungsmethodischer Ansatz, der in der VDW Tradition hat, gerade weil er so gut geeignet ist, Erkenntnisse aus unterschiedlichen Disziplinen zusammenzubringen. TA ist interdisziplinär, oft auch transdisziplinär. Das heißt, sie bezieht neben dem Expertenwissen von Wissenschaftlern auch das Erfahrungswissen von Praktikern ein. Der Diskurs um „digitale Bildung“ ist jedoch bisher leider davon geprägt, dass ein sehr eingeschränktes Spektrum von Disziplinen rund um die Medienpädagogik (Mediendesigner, Mediendidaktiker, Mediensozialisationsforscher, Medienanbieter, kurz: „Medien-Experten“) die alleinige Deutungsmacht für sich beansprucht. Sie vertreten folgende Auffassung: Die Risiken der Digitalisierung seien klein und beherrschbar, die Chancen gewaltig. Und die politischen Initiativen und Forderungspapiere orientieren sich brav danach [1, 2, 3]. Das wäre gar nicht so schlimm, würde  nicht der aktuelle „Early High Tech Hype“, also die Forderung nach Einsatz von digitalen Medien in Bildungseinrichtungen für Kinder in immer jüngerem Alter bis hinunter in den Kindergarten, nach Meinung der meisten anderen Expertengruppen (und vieler Praktiker) Kindern schaden:

Fragt man neben „Medien-Experten“  auch Experten anderer Disziplinen danach, welche Empfehlungen sie aus ihrem jeweiligen Forschungsfeld für die „digitale Bildung“ ableiten, ergeben sich z.T. sehr stark abweichende Antworten. Die „anderen Experten“ in der einschlägigen Studie hierzu [4] waren Entwicklungspsychologen, Gesundheitspädagogen, allgemeine und historische Bildungsforscher, Sucht- und Sucht-Präventions-Experten, Neuropsychologen, Public Health Forscher und weitere: Sie betonen negative Auswirkungen ausufernden Bildschirmmedienkonsums wie Empathie-Verlust, Übergewicht, Schlafstörungen, mangelnde Konzentration, Kurzsichtigkeit, Verzögerungen der Sprach- und Bewegungsentwicklung und suchtartige Digitalmediennutzung. Für kleine Kinder sehen Sie praktisch keine nachgewiesenen Chancen und Potenziale. Sie konstatieren große Risiken gegenüber kaum vorhandene Chancen für die Kleinsten. Ein Überwiegen der Chancen eines kundig gesteuerten Digtitalmedieneinsatzes sehen sie ab dem Jugendalter. Gegenüber der Empfehlung der „Medienexperten“, in der Mitte des Kindergartenalters mit dem PC-Einsatz zu beginnen, empfehlen die „anderen Experten“: Gegen Ende des Grundschulalters. Fünf Jahre (!!!) Unterschied in den Altersempfehlungen sind das [4]. Warum werden die „anderen Experten“ von unserer Bildungspolitik nicht gefragt?

Fake science? Warped science: Fehlzitation mit Pseudo-Korrektur

Wissen Politiker und Interessenverbände  vielleicht bereits vorher, was bei den beauftragten Expertisen herauskommen soll, und suchen sich die Experten danach aus? Der folgende Fall, der jüngst Empörung auslöste [5],  legt dies nahe: Der „Aktionsrat Bildung“ der Vereinigung der Bayrischen Wirtschaft veröffentlichte ein Gutachten mit höchst professoraler Autorenschaft, in dem  -unter anderen und teilweise auch sinnvollen Forderungen – ganz prominent eine Intensivierung des „Early High Tech Hype“ gefordert wird. Eine zentrale Begründung hierfür findet sich auf S. 78 des Gutachtens: Grundschülerinnen […], in deren Unterricht mindestens einmal wöchentlich Computer eingesetzt wurden, [weisen] in den den Domänen Mathematik und Naturwissenschaften statistisch signifikant höhere Kompetenzen auf […]. Soweit eine in sich konsistente Logik. Aber: In der TIMMS (Trends in International Mathematics and Science Study), die als Quelle angegeben wird, steht das GEGENTEIL! Bei mehr Computereinsatz im Unterreicht haben die Schüler signifikant niedrigere Kenntnisse in Mathematik und Naturwissenschaften. Der eigentliche Skandal folgt erst noch: Nach Bekanntwerden der Fehlzitation wurden im Gutachten nur drei Sätze geändert [3]. Sämtliche Frühdigitalisierungs-Forderungen blieben bis in den Wortlaut hinein unverändert. Solange die Studien also den Interessenverbänden ins Bild passen, werden sie anscheinend als „Kronzeugen“ gerne hinzugezogen. Alle großen deutschen Tages- und Wochenzeitungen haben das sinngemäß abgedruckt: „Schulen müssen digitaler werden. Am Nutzen besteht kein Zweifel.“  Nun stellt sich heraus, dass erhebliche Zweifel am Nutzen bestehen, dass die Studienergebnisse fehlzitiert wurden. Aber die Forderung bleibt exakt dieselbe? Das darf doch nicht wahr sein! Das ist warped science, irgendwo zwischen fake news und fake science anzusiedeln. Und das ist kein Einzelfall. Manfred Spitzer spricht gar von „postfaktischer Bildungspolitik“ [6].

Gehört unbedingt gehört!

Ermutigend ist, dass sich an vielen Ecken Widerstände dagegen regen. Die Orientierung von digitaler Bildungspolitik an den kurzfristigen Profitinteressen von Großkonzernen statt an den langfristigen kindlichen Entwicklungsbedürfnissen bleibt nicht unwidersprochen.  Zwei gut begründete Forderungen ergeben sich: Erstens, Wissenschaft übernimmt Verantwortung, wenn sie in der guten Tradition der Technikfolgenabschätzung Chancen und Risiken der Digitalisierung für Kinder und Jugendliche in Zukunft noch vermehrt erforscht. Und wenn sie zweitens formuliert, was sich aus dem Forschungsstand für den Moment ableiten lässt. Das ist m.E. folgendes:  Um medienmündig [vgl. 7] statt mediensüchtig zu werden, brauchen Kinder zunächst eine solide Basis im realen Leben.  Wer etwas für Bildung tun will, investiert in Bewegungsförderung in der KiTa, in Schulbibliotheken und Leseförderung an Grundschulen, in eine bessere Bezahlung für Pädagogen. Für ältere Schüler, Azubis und Studierende machen dann auch dosierte Investitionen in digitale Infrastruktur Sinn.  So können digitale Medien zum Leben und Lernen viel beitragen, und die Risiken bleiben im Rahmen. Mit dieser Einschätzung stehe ich nicht allein, wie zwei aus sehr unterschiedlichen Ecken kommende Statements zum Abschluss zeigen, der OECD-Bericht zum Thema Computer und Bildung, und ein Statement der Deutschen Mathematiker Vereingung:

„…die schichtspezifischen Unterschiede in der Fähigkeit, digitale Medien zum Lernen zu nutzen, ist großenteils, wenn nicht gar vollständig durch Unterschiede in traditionellen Basiskompetenzen erklärbar. Eine Förderung von Grundkenntnissen in Rechnen und Schreiben trägt  mehr zur Angleichung von Bildungschancen bei als die Ausweitung und Subventionierung von Zugang zu High-Tech Geräten und Dienstleistungen.“[8]

„Vollständig digital kompetent ist und bleibt auf lange Sicht nur, wer die theoretischen Grundlagen versteht. Nach Erfahrung der überwältigenden Mehrheit der Mathematikerinnen und Mathematiker weltweit sind Tafel, Papier und das direkte Unterrichtsgespräch meist [dafür] viel besser geeignet. Ohne die vorherige Vermittlung dieser Grundlagen ist die Belieferung von Bildungseinrichtungen mit Soft- und Hardware hingegen eine Scheinlösung. Bleiben die richtigen Lerninhalte aus, hemmt sie sogar den Anstieg der Digitalisierungskompetenz in Deutschland. Wir halten es daher für fehlgeleitet, an erster Stelle in digitale Medien zu investieren.“ [9]

Prof. Dr. Paula Bleckmann

Professorin für Medienpädagogik an der Alanus Hochschule für Kunst und Gesellschaft,
VDW-Beiratsmitglied


[1]Strategiepapier der  Kultusministerkonferenz (2016). „Bildung in der digitalen Welt“ https://www.kmk.org/fileadmin/Dateien/pdf/PresseUndAktuelles/2016/Bildung_digitale_Welt_Webversion.pdf

[2]Ministerin Wankas Digitalpakt#D https://www.golem.de/news/digitalpaktd-schaeuble-gibt-keine-milliarden-fuer-schulen-digitalisierung-1703-126746.html

[3]Gutachten (korrigierte Version vom 16. 5. 2017) des „Aktionsrat Bildung“ der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft (VBW): „Bildung 2030 – Veränderte Welt. Fragen an die Bildungspolitik“. http://www.aktionsrat-bildung.de/fileadmin/Dokumente/ARB_Gutachten_gesamt_16.05.2017.pdf

[4]Bitzer, E.M., P. Bleckmann, and T. Mößle (2014), Prävention problematischer und suchtartiger Mediennutzung in Deutschland – eine Pilotbefragung, KFN-Forschungsbericht 125. http://kfn.de/wp-content/uploads/Forschungsberichte/FB_125.pdf

[5] Lankau, R. (2017). Falsch zitiert und falsch gemeldet. http://lankau.de/2017/06/01/falsch-zitiert-und-falsch-gemeldet/

[6]Spitzer, Manfred (2017): Editorial: Digital 0.0. Wider die postfaktische Bildungspolitik. In: Nervenheilkunde 36 (4), S. 205–212.

[vgl. 7]Bleckmann, P. (2012). Medienmündig – wie unsere Kinder selbstbestimmt mit dem Bildschirm umgehen lernen. Stuttgart: Klett-Cotta.

[8]OECD (2015): Students, Computers and Learning. Paris: Organisation for Economic Cooperation and Development. Aus dem executive summary. Übersetzung aus dem Englischen von PB

[9] Deutsche Mathematiker Vereinigung: „Inhalte statt Geräte“. Presseinformation zum Nationalen IT-Gipfel 2016. https://dmv.mathematik.de/index.php/all-docman-categories/presseinformationen/presseinformationen-2016/674-pi-dmv-it-gipfel

Prof. Dr. Paula Bleckmann
Prof. Dr. Paula Bleckmann
Jahrgang 1972, ist Professorin für Medienpädagogik an der Alanus Hochschule in Alfter. Sie studierte Biologie in Konstanz und promovierte an der Universität in Bremen mit einer Arbeit zur medienpädagogischen Elternberatung bei Prof. Heinz Buddemeier. Am Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen (KFN) leitete sie fünf Jahre lang innerhalb des interdisziplinären Forscherteams in einem Projekt zu „Computerspiel- und Internetabhängigkeit in Deutschland“ den Schwerpunkt Prävention. Sie habilitierte sich 2014 an der PH Freiburg in Gesundheitspädagogik. Paula Bleckmann ist erste Vorsitzende des Vereins MEDIA PROTECT e.V., der das Präventionsprojekt ECHT DABEI (www.echt-dabei.de) entwickelte. Zudem ist sie Mitglied der AG „Prävention internetassoziierter Störungen am Bundesgesundheitsministerium und VDW-Beiratsmitglied.