*Der Beitrag spiegelt die persönliche Meinung des Autors wider und entspricht nicht zwangsweise der Meinung der VDW.

++ Am 22.04.2017 gingen auf der ganzen Welt Menschen auf die Straße, um für den Wert von Forschung und Wissenschaft zu demonstrieren. Der „March for Science“ hat die Bedeutung der Wissenschaft für die Gesellschaft verdeutlicht, eine Bedeutung, der die Wissenschaft aber nur dann gerecht werden kann, wenn sie frei, (selbst-)kritisch und verantwortungsbewusst praktiziert wird. Zum Anlass des „March for Science Hamburg“ hat Prof. i.R. Hartwig Spitzer über seine Erfahrungen und Einsichten in der Naturwissenschaft gesprochen und eine Richtschnur für verantwortliche Praxis formuliert. Weil die Bedeutung – und die Verantwortung – der Wissenschaft nicht an ein Datum oder eine öffentliche Demonstration gebunden sind, sondern integrale Bestandteile wissenschaftlicher Praxis sein müssen, veröffentlichen wir sein Grußwort nun auch hier im VDW Blog zur Verantwortung in der Wissenschaft. ++

Grußwort von Prof. i.R. Dr. Hartwig Spitzer zum „March for Science Hamburg“ 2017

Guten Tag und vielen Dank für die Einladung.

Der March for Science 2017 zeigt: Es ist möglich den Kopf einzuschalten und Position zu beziehen für eine freie verantwortungsbewusste Wissenschaft – eine Wissenschaft, die dem Gemeinwohl dient.

Sie kennen das Märchen von des Kaisers neuen Kleidern: Der Kaiser sitzt zwei Betrügern auf und läuft nackt durch die Stadt. Alle Menschen an der Straße sagen: „Wie sind des Kaisers Kleider doch unvergleichlich.“ Endlich ruft ein Kind: „Er hat ja gar nichts an.“

Jeder Mensch macht sich Bilder der Wirklichkeit, auch wir Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen. Wir lassen es dabei aber nicht bewenden. Wir überprüfen die Bilder der Wirklichkeit mit wissenschaftlichen Methoden.

Mein Heimatfach ist die Physik. Das Studium und die Arbeit in der Physik haben mich geprägt. Sie haben mir Sicherheit und Werkzeuge gegeben, mich auch fachübergreifenden Problemen zuzuwenden, wie der Verifikation von Rüstungskontrolle. Da geht es um die Überprüfung der Einhaltung von Vereinbarungen zur Rüstungsbegrenzung zwischen ehemals verfeindeten Staaten. Das ist auch eine Form von Wahrheitsfindung.

Licht und Schatten liegen in der Wissenschaft nahe beieinander. Dazu je drei Beispiele aus meiner Erfahrung.
Erst positive Erfahrungen, die ich auch Ihnen und Euch wünsche:

  • Die Freude am Erkennen
  • Die fruchtbare Zusammenarbeit im Team und
  • Die Lust am kritischen Hinterfragen

1. Die Freude am Erkennen von größeren Zusammenhängen konnte ich in der Physik immer wieder erfahren. Dieses Elektron, dieses Proton in einer Zelle auf meiner Nasenspitze ist (mit großer Wahrscheinlichkeit) in der Frühphase des Universums entstanden, vor über 13 Milliarden Jahren. Wer weiß, was es inzwischen schon alles erlebt hat, in kosmischen Gaswolken und bei der Evolution des Lebens auf der Erde.

2. Zum zweiten: Die Freude an der Zusammenarbeit in einem großen internationalen Team habe ich bei DESY erlebt mit Kollegen aus Ost und West, von Moskau bis Maryland, lange vor dem Fall der Berliner Mauer. Die großen globalen Zukunftsfragen wie der Klimawandel lassen sich nur gemeinsam mit grenzüberschreitender Zusammenarbeit bewältigen, nicht mit nationalen Alleingängen.

3. Zum Dritten, zur Freude und Lust am methodischen Arbeiten und kritischen Hinterfragen: Da treffen sich der Schalk und der kritische Geist in mir. Ich habe meine Diplomanden und Doktoranden immer wieder genervt mit der Frage: Wie genau wisst ihr eigentlich, was ihr behauptet. Wie groß sind die Unsicherheiten eurer Ergebnisse?
Das ist auch ein Teil der Wahrheitssuche, so zu fragen. Das bringt Licht in unsere Bilder der Wirklichkeit. Wer die Grenzen des eigenen Wissens kennt und sie nennt, wer öffentlich dazu steht, zeigt Courage. Wer über seine eigenen Grenzen sogar schmunzeln kann, lebt glücklicher als mancher Fundamentalist und mancher Verschwörungstheoretiker.

Jetzt bin ich schon bei den Schatten. Wie ist es mit den Schatten in der Wissenschaft? In welche Versuchungen können Sie im Wissenschaftsbetrieb geraten?
Ich greife drei heraus, denen ich begegnet bin: Es ging um Geld, Anerkennung und Verantwortung.

1. Zum Thema Geld. Viele von Ihnen kennen das. Wie weit bin ich bereit mich zu verbiegen, um die Finanzierung eines Projektes oder Forschungsantrages durch zu bekommen. Jeder Geldgeber hat eigene Interessen, der eine mehr, der andere weniger. Da gibt es Grenzen.

2. Zum Thema Anerkennung. Wie sicher bin ich meiner persönlichen und meiner fachlichen Identität? Wieviel Respekt und Anerkennung kann ich für Vertreter anderer Fächer aufbringen? Die großen globalen Zukunftsfragen – wie der innergesellschaftliche und der zwischenstaatliche Frieden – kümmern sich nicht um Fachgrenzen oder Ressortgrenzen. Für die Bearbeitung solcher Zukunftsfragen brauchen wir Menschen, die stark und offen sind für fachübergreifende Zusammenarbeit auf Augenhöhe. Wie kommen wir dahin? Mein Motto bei der Arbeit mit Studierenden und Kollegen heißt: „Die Menschen stärken und die Sachen klären.“

3. Zum Thema Verantwortung: Wer ist eigentlich verantwortlich für die Bewältigung von unvorhergesehenen oder unerwünschten Folgen von wissenschaftlichen Entdeckungen? Als Otto Hahn die Kernspaltung entdeckte, hatte er noch keine Ahnung von Hiroshima und Tschernobyl. Ich gehöre zu der Fraktion, die sich zu einer Mitverantwortung bekennt. Wer in der Forschung arbeitet, hat eine Mitverantwortung dafür, was in Technik, Wirtschaft, Militär und Gesellschaft mit Forschungsergebnissen passiert. Das kann und darf ich nicht allein Politikern überlassen.
Die Sache ist so ähnlich wie die mit dem Eigentum. In §14 unseres Grundgesetzes heißt es: “Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Gemeinwohl dienen.“ Analog gilt aus meiner Sicht: Wissen verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Gemeinwohl dienen.

Was bedeutet das für mein Handeln? Meine Richtschnur heißt: Verwende 5-10 Prozent deiner Arbeitskraft für ein Engagement zur Bewältigung von unerwünschten Wissenschaftsfolgen, für ein Engagement für das Gemeinwohl.[1]

Das machen zum Beispiel Jurastudierende der Universität Hamburg, die eine Rechtsberatung für Geflüchtete anbieten.
Das machen Studierende, die Ringvorlesungen über Plurale Ökonomie veranstalten, als Alternative zum Mainstream der Wirtschaftswissenschaft.
Das machen die jungen Frauen und der Mann, die diesen Science March organisiert haben.
Dafür gebührt ihnen unser Dank und Beifall.

Prof. i.R. Dr. Hartwig Spitzer

Hochschullehrer am Fachbereich Physik der Universität Hamburg, Mitbegründer der Arbeitsgruppe Naturwissenschaft und internationale Sicherheit in der Universität Hamburg (CENSIS)


[1]  Die Welt ändert sich, wenn sich individuelles Handeln ändert und strukturelle Rahmenbedingungen in den Institutionen weiterentwickelt werden. Zur Bewältigung von unvorhersehbaren und unerwünschten Wissenschaftsfolgen sind daher auch zusätzliche Elemente in allen Forschungsprogrammen erforderlich: 5-10% der Arbeit und Mittel für die Erforschung und Bewältigung solcher unvorhergesehener oder unerwünschter Folgen.

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Prof. i.R. Dr. Hartwig Spitzer
Prof. i.R. Dr. Hartwig Spitzer
Hochschullehrer am Fachbereich Physik der Universität Hamburg. Prof. i.R. Dr. Spitzer hat von 1964-2003 an Experimenten der Teilchenphysik am Deutschen Elektronen Synchrotron DESY in Hamburg gearbeitet. 1988 gründete er mit anderen die Arbeits-gruppe Naturwissenschaft und internationale Sicherheit in der Universität Hamburg (CENSIS). Zu seinen Arbeitsschwerpunkten bei CENSIS gehörten die Bildverarbeitung von Luft- und Satellitenbildern und die Verifikation von Rüstungskontroll-verträgen. Er war maßgeblich an der Einrichtung des Carl Friedrich von Weizsäcker-Zentrums für Natur-wissenschaft und Friedensforschung in der Universität Hamburg beteiligt.