*Der Beitrag spiegelt die persönliche Meinung des Autors wider und entspricht nicht zwangsweise der Meinung der VDW.

Wer neue wissenschaftliche Erkenntnisse hinzufügt, muss dafür auch Verantwortung übernehmen. Im Leitbild der VDW steht: Wissenschaft und Technik sind wichtige Grundlagen unserer Zivilisation und Kultur, aber immer noch befassen sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zu wenig mit den gesellschaftlichen Folgen ihrer Arbeit, vor allem wenn die Ergebnisse in die politisch-ökonomischen Kraftfelder geraten. Die VDW stellt sich diesem Defizit durch einen aktiven Diskurs.

Wir wollen also Verantwortung dafür übernehmen, dass der Kenntnisgewinn nicht zum Nachteil der Menschheit und der Mitwelt benützt wird. So wie es die Göttinger 18 taten, als sie vor genau 60 Jahren die sogenannte Göttinger Erklärung veröffentlichten, in der sie sich gegen die Bewaffnung der Bundeswehr mit Atomwaffen wandten, nachdem Bundeskanzler Adenauer extrem verharmlosend von taktischen Atomwaffen als einer neuen Art von Artillerie gesprochen hatte. Am 12. April 2017 jährt sich die Veröffentlichung der ersten größeren an die Politik der jungen Bundesrepublik Deutschland gerichteten Äußerung aus der Wissenschaft zum 60. Male. In dieser Erklärung haben 18 überwiegend in Göttingen arbeitende renommierte Physiker (Fritz Bopp, Max Born, Rudolf Fleischmann, Walther Gerlach, Otto Hahn, Otto Haxel, Werner Heisenberg, Hans Kopfermann, Max von Laue, Heinz Maier-Leibnitz, Josef Mattauch, Fritz Paneth, Wolfgang Paul, Wolfgang Riezler, Fritz Straßmann, Wilhelm Walcher, Carl Friedrich von Weizsäcker und Karl Wirtz) , unter ihnen die Nobelpreisträger Otto Hahn, Werner Heisenberg und Max von Laue, vor der Bewaffnung der Bundeswehr mit Atomwaffen gewarnt und – besonders wichtig – gleichzeitig jegliche Mitarbeit an dem Bau und dem Einsatz solcher Waffen ausgeschlossen.

Die Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (VDW) ist in der Folge dieser Erklärung 1959 von einigen dieser Physiker und anderen gegründet worden und ihr erster Vorsitzender, Carl Friedrich von Weizsäcker, war schon vorher der Sprecher der Göttinger 18. Das auch Göttinger Erklärung genannte Memorandum hat sehr großes Aufsehen bei Medien und den Regierungspolitikern verursacht. Die nach Bonn zitierten Wissenschaftler mussten sich den Vorwurf der unerwünschten Einmischung in die Politik durch Kanzler Adenauer und den Verteidigungsminister Strauß anhören.

Ein zentraler Textteil der Erklärung lautete: Wir fühlen keine Kompetenz, konkrete Vorschläge für die Politik der Großmächte zu machen. Für ein kleines Land wie die Bundesrepublik glauben wir, daß es sich heute noch am besten schützt und den Weltfrieden am ehesten fördert, wenn es ausdrücklich und freiwillig auf den Besitz von Atomwaffen jeder Art verzichtet. Jedenfalls wäre keiner der Unterzeichneten bereit, sich an der Herstellung, der Erprobung oder dem Einsatz von Atomwaffen in irgendeiner Weise zu beteiligen. Damit war die Bundesregierung, die mit Atomwaffen zumindest liebäugelte, in ein Dilemma geraten, weil zentrale Spitzenforscher in Opposition gegangen waren.

Wie sich seitdem die Zeiten geändert haben, zeigt der letzte Satz der Erklärung: Gleichzeitig betonen wir, daß es äußerst wichtig ist, die friedliche Verwendung der Atomenergie mit allen Mitteln zu fördern, und wir wollen an dieser Aufgabe wie bisher mitwirken.“ Wenn sich Wissenschaftler äußern muss von ihnen auch immer bedacht werden, dass sich Einschätzungen ändern können, so dass jeweils im Dialog mit Öffentlichkeit und Politik auf der Basis besserer Erkenntnisse frühere Entscheidungen angepasst werden müssen.

Die starke Zustimmung an Universitäten und die öffentliche Debatte, die die Erklärung überwiegend guthieß, haben neben anderen wesentlichen Gegnern einer Atombewaffnung Deutschlands im Ausland dazu geführt, dass die Regierung Adenauer auf Atomwaffen für die Bundeswehr verzichtete.

Nur eine kleine Minderheit der Wissenschaftler übernimmt Verantwortung

Warum ist es auch heute noch so selten, dass sich Wissenschaftler in der Öffentlichkeit gegen den Missbrauch ihrer Entdeckungen äußern oder vor Fehlentwicklungen warnen, und sie auch bereit sind durch die öffentliche Debatte ihrer Äußerungen, aber auch durch andere Wissenschaftler zum Teil unberechtigt angegriffen zu werden? Weil die meisten Wissenschaftler – wie die meisten Menschen – nicht anecken wollen, die Einflussmöglichkeiten als zu gering erachten oder Politik als häufig schmutziges Geschäft betrachten.

Ich selbst war lange ein solcher wissenschaftspolitisch und politisch nicht engagierter Wissenschaftler, der sich ab etwa 1978 in der breiten Öffentlichkeit nur in eingeladenen Vorträgen meldete, der sich dadurch beruhigen konnte, dass seine Forschungsergebnisse schon von den Umweltgruppen in die öffentliche Debatte getragen würden. Wegen meines Spezialwissens im Bereich der Strahlungsübertragung in der Atmosphäre bin ich dann allerdings durch zwei wissenschaftliche Gesellschaften in die öffentliche Arena geworfen worden. Seit dem von mir wesentlich mitformulierten Memorandum „Warnung vor weltweiten Klimaänderungen durch den Menschen“, das vor ziemlich genau dreißig Jahren in Berlin bei der Frühjahrstagung der Deutschen Physikalischen Gesellschaft zusammen mit der Meteorologischen Gesellschaft veröffentlicht wurde, vergeht für mich fast keine Woche mehr ohne Öffentlichkeitsarbeit, die ich allerdings fast nie als Last empfand und die dazu führte, dass die – wie mir Ministerialbeamte sagten – früh bei ihnen vorstellig gewordenen großen Energieversorger dabei meine Entfernung aus Beratungsgremien der Bundesregierung anregten. Denn ich war schon 1988 zum Vorsitzenden des Wissenschaftlichen Klimabeirates der Bundesregierung geworden, der auf Anregung durch den Freistaat Bayern im Bundesrat eingerichtet worden war.

Zwei zentrale Herausforderungen für die Menschheit

Heute werden Atomwaffen und globale anthropogene Klimaänderung oft in einem Atemzug als die beiden größten Herausforderungen für die Menschheit genannt, und in beiden Fällen sind die Bestimmungen in den völkerrechtlich verbindlichen Abkommen zur Reduzierung der Atomwaffen oder der Begrenzung der globalen Erwärmung noch weit vom Ziel entfernt und werden auch von einigen Ländern missachtet. Als engagierter Wissenschaftler sehe ich allerdings zu beiden Themen in jüngster Zeit wesentliche Fortschritte: Erstens ist die völkerrechtlich verbindliche Paris-Vereinbarung als Teil der Rahmenkonvention der Vereinten Nationen über Klimaänderungen gleichbedeutend mit dem Ausstieg aus der Nutzung fossiler Brennstoffe für die Energieversorgung in den nächsten wenigen Jahrzehnten, und zweitens verhandeln im Rahmen der Vereinten Nationen 130, also die Mehrheit aller etwa 200 Länder, in New York über die Ächtung von Atomwaffen. Ich möchte diesen beiden großen Herausforderungen für das Wohlergehen der gesamten Menschheit noch eine dritte hinzufügen: Den Stopp des Verlustes an biologischer Vielfalt. In anderen Worten: Eine Revolution in der Landwirtschaft ist notwendig, deren industrialisierte Form die Hauptbedrohung für Arten und Ökosysteme geworden ist. Denn unsere Ernährung hängt ganz wesentlich von den Leistungen funktionierender Ökosysteme ab.

In diesem Zusammenhang möchte ich als Bürger an die Bundesregierung appellieren doch für beide Herausforderungen jetzt Folgendes zu tun: Erstens, verhandelt mit bei der Debatte um die Ächtung der Atomwaffen bei den Vereinten Nationen, steht also nicht mehr abseits, und zweitens zeigt mehr Mut bei den vernachlässigten Teilthemen der Energiewende, nämlich der Wärme- und Mobilitätswende. An die Medien gerichtet: Macht beides zum Wahlkampfthema!

Wir Wissenschaftler sollten uns dabei jedoch nicht nur pauschal zur Abschaffung der Atomwaffen äußern, eine maximal tolerierbare mittlere globale Erwärmung fordern oder den galoppierenden Verlust der biologischen Vielfalt zu stoppen, sondern wir müssen auch Lösungswege –  oft in frustrierend kleinen Schritten in Richtung Ziel – aufzeigen.

Kommen Warnungen noch früh genug?

Fast jede der demokratisch gewählten Regierungen führt das Wort Innovation im Munde, fordert erhöhte Wettbewerbsfähigkeit der eigenen Industrie, und sie alle wissen, dass ohne weiter gesteigerte Forschung langfristig die eigene Wiederwahl gefährdet ist. Die Bundesregierung unterstützt deshalb sogar große, sehr gewinnträchtige Unternehmen mit Forschungsgeldern, denn es sitzt ihr die Angst im Nacken, dass ein bei wachsendem Rentneranteil immer stärker forderndes soziales Sicherungssystem – es frisst einen immer größeren Teil der Steuern – bei nachlassender Wettbewerbsfähigkeit den Aufstand der sich abgehängt Fühlenden oder der wirklich Abgehängten provoziert. Gleichzeitig entdeckt die Erdsystemforschung immer stärker, dass die nur schwach oder überhaupt nicht geförderte Forschung zur Technikfolgenabschätzung die großen Risiken bestimmter Techniken oft nicht früh genug erkannt hat. Beispiele dafür sind: Das Ozonloch über der Antarktis (glücklicherweise gerade noch früh genug erkannt; unter anderen durch den Nobelpreisträger und das VDW-Mitglied Paul Crutzen), die raschen globalen Klimaänderungen (jetzt hoffentlich durch die Paris-Vereinbarung vielleicht noch früh genug eingehegt), die Risiken durch genetisch modifizierte Organismen (beispielhaft fokussiert in der Kopplung von Herbiziden wie Glyphosat und Gen-Soja oder Gen-Mais). Jetzt müsste kräftig bei hohen Kosten für diese Forschung umgesteuert werden, was aber nur zögerlich getan wird. Also sägen wir weiterhin an dem Ast, auf dem wir sitzen, schwächen daher weiterhin die Ökosysteme, die Basis für unser Leben, durch falsche landwirtschaftliche Praktiken und die raschen Klimaänderungen.

Was mich besonders beunruhigt ist Folgendes: Wir beobachten eine weiter erhöhte Innovationsgeschwindigkeit und wir wissen nicht, ob die Forschung zur Technikfolgenabschätzung überhaupt noch mitkommen kann. Auch dieser Aspekt ist Teil der Agenda der VDW.

Der hoffnungsvolle Schluss

Wissenschaftler haben den Grundstock für ein Leben vieler im Frieden und Wohlstand gelegt, dennoch sind sie deshalb auch mit verantwortlich dafür sich auch gegen den häufigen Missbrauch ihrer Erkenntnisse zu wenden. Dass inzwischen von mehr als 7,5 Milliarden Menschen ein höherer Prozentsatz als jemals zuvor nicht mehr in Armut leben muss und nicht mehr vom Hungertode bedroht ist, sollte trotz aller Konflikte als wesentlicher zivilisatorischer Fortschritt anerkannt werden.

Es ist für mich eine Genugtuung, dass zwei internationale Organisationen, nämlich die Pugwash-Bewegung und ihr Gründer Jozef Rotblat sowie der Zwischenstaatliche Ausschuss über Klimaänderungen (IPCC) 1995 bzw. 2007 den Friedensnobelpreis verliehen bekamen, weil sie die Verantwortung der Wissenschaft für die zurzeit beiden wichtigsten Herausforderungen der Menschheit überzeugend wahrgenommen haben. Wir sollten uns deshalb heute als Wissenschaftler auf Forschungsthemen wie den Vertrag zur Nichtweiterverbreitung von Atomwaffen und die weitere Abrüstung der wichtigsten Atomwaffenbesitzer konzentrieren, Wege zur Umsetzung der Paris-Vereinbarung aufzeigen sowie zur Nahrungssicherheit für alle konzentrieren. Die VDW versucht dies weiterhin.

Prof. Dr. Dr. h.c mult. Hartmut Graßl

Max-Planck-Institut für Meteorologie, Hamburg
Vorsitzender der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (VDW)

Prof. Dr. Hartmut Graßl
Prof. Dr. Hartmut Graßl
Hartmut Graßl, Jahrgang 1940, ist emeritierter Direktor am Max-Planck-Institut für Meteorologie in Hamburg und ehemaliger Professor der Universität Hamburg. Er übt Funktionen in verschiedenen wissenschaftlichen, wissenschaftspolitischen und wirtschaftlichen Gremien aus. Professor Graßl ist u.a. Vizepräsident des Stiftungsrates des Nansen International Environment and Remote Sensing Centre (NIERSC) in St. Petersburg (Russland), Vorsitzender der Gesellschafterversammlung des Potsdam-Institutes für Klimafolgenforschung (PIK), Vorstandsvorsitzender der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (VDW), Vorsitzender des Klimarates der bayerischen Staatsregierung, Mitglied im Stiftungsrat der Münchner Rück Stiftung und im Aufsichtsrat der Scintec AG in Rottenburg bei Tübingen. Von 1992 bis 1994 sowie von 2001 bis 2004 war Professor Graßl Mitglied und Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats „Globale Umweltveränderungen“ (WBGU) der Deutschen Bundesregierung. Er ist auch Mitglied der Jury für den Whistleblower-Preis, den die VDW und IALANA vergeben.